Orgelgeschichte

Der spätgotische Bau der Marienkirche mit dem neugotisch vollendeten Mittelturm bildet die eindrucksvolle Stadtkrone Mühlhausens, das weithin sichtbare Wahrzeichen der Stadt. Urkundlich ist die Marienkirche erstmals 1221 bezeugt, aber sie ist auf jeden Fall älter.

Der vom Vorgängerbau stammende Nordturm wird ins 12. Jahrhundert datiert und ist das älteste erhaltene Bauwerk Mühlhausens. Bis zu ihrer Profanierung 1975 war sie die Pfarrkirche der Mühlhäuser Neustadt, einer hochmittelalterlichen Stadterweiterung. Ihr heutiger Bau stammt im Wesentlichen aus dem 14. Jahrhundert. In der 1802 mit der Annexion durch Preußen beendeten Ära der Freien Reichsstadt war sie zudem die Ratskirche, in der der jährliche Wechsel der Ratskollegien symbolisch begangen wurde.

Johann Sebastian Bach schuf für die Ratswechsel 1708, 1709 und 1710 jeweils eine Kantate – leider ist nur die Ratswechselkantate von 1708 „Gott ist mein König“ BWV 71 überliefert.
Es ist durchaus zu vermuten, dass die Marienkirche, einer der beiden Hauptkirchen der Stadt, schon früh über eine Orgel verfügte, doch ist darüber nichts bekannt. Dagegen ist der Bau einer großen Orgel auf der Westempore 1561 – 1563 gut dokumentiert. Um den Bau zu finanzieren, verkaufte die Gemeinde liturgische Geräte und Ornate, die infolge der Reformation nicht mehr gebraucht wurden.
Diese Orgel mit Rückpositiv wurde von dem Göttinger Orgelbauer Jost Pape erbaut und 1720 durch einen Blitzschlag „zerschmettert“.

Mit dem Neubau unter Verwendung noch brauchbarer Teile der zerstörten Orgel wurde Johann Friedrich Wender beauftragt. 1722 lieferte er den Entwurf für die neue Orgel, zu dem auch ihre vollständige Disposition gehörte. Mit 43 klingenden Stimmen, verteilt auf drei Manuale und Pedal, darunter einer 32-füßigen Posaune im Pedal, war sie für ihre Entstehungszeit ein ausgesprochen großes Instrument, das Größte in Mühlhausen.

Das weitgehend unzerstörte Rückpositiv der alten Orgel wurde dabei in die Neue integriert. Das neue Instrument erklang zu Weihnachten 1724 zum ersten Mal, war aber noch unvollendet, ebenso bei Wenders Tod 1729. Mit der Fortsetzung der Arbeiten wurde Wenders Sohn Christian Friedrich betraut. Er war jedoch der Aufgabe offenbar nicht gewachsen – Zahlungen für Restarbeiten sind bis 1744 belegt. Als sich sein Sohn Johann Gottfried Bernhard um die Organistenstelle an der Marienkirche bewarb, kam auch Johann Sebastian Bach 1735 nach Mühlhausen und begutachtete die noch immer unvollendete Orgel – das Gutachten ist leider nicht erhalten.

Johann Gottfried Bernhard  war bis 1737 Organist an der Mühlhäuser Marienkirche.
1821/22 führte der renommierte Orgelbauer Johann Friedrich Schulze aus Paulinzella eine umfangreiche Reparatur durch. Sie war mit einem teilweisen Umbau verbunden. Das Ergebnis befriedigte zwar nicht, doch tat die Orgel noch mehr als ein halbes Jahrhundert ihren Dienst.

Im 19. Jahrhundert präsentierte sich nicht nur ihre Orgel, sondern auch die Marienkirche insgesamt in einem wenig erfreulichen Zustand. Bereits seit Mitte der 1840er Jahre gab es Bemühungen um die notwendige Restaurierung der Kirche. 1884 begannen dann umfassende Restaurierungsarbeiten, vornehmlich im Innern der Kirche. Nach deren Abschluss 1891 erfolgten dann die Wiederherstellung des durch den Blitzschlag 1720 erheblich beschädigten Südturmes, der Bau des neugotischen Oktogons und Helmes des Mittelturmes sowie eine umfassende Restaurierung der Querhausportale.

Im Zuge der 1884 begonnenen Restaurierungsmaßnahmen erhielt die Kirche auch eine neue Orgel, die die den Ansprüchen nicht mehr genügende Wender-Schulze-Orgel ersetzte. Den Auftrag für den Neubau der Marienorgel erhielt der in Frankfurt/Oder ansässige Orgelbauer Wilhelm Sauer. Er hatte sich bei der Bewerbung um den Auftrag gegen den Mitbewerber Friedrich Ladegast durchgesetzt. Sauer zählte zu den führenden Orgelbauern seiner Zeit, war bereits 1884 zum Königlich Preußischen Hoforgelbaumeister ernannt worden und vollendete 1888 gerade den Neubau der bis heute erhaltenen Orgel in der Leipziger Thomaskirche.

Bereits 1889 hatte man im Zuge der Restaurierung des Innenraumes eine neue Westempore für die künftige Orgel errichtet. Der Prospekt der Orgel, der den Westen des Kirchenraumes beherrscht, war ursprünglich für die Orgel in der Leipziger Thomaskirche vorgesehen, fand dort aber schließlich keine Verwendung.

1890/91 erfolgte dann der Bau der neuen Orgel. Das Instrument war die letzte große Orgel Sauers mit mechanischen Kegelladen. Sie verfügt über Barkerhebel sowie Additivkombinationen und ist damit hervorragend geeignet für die Aufführung von Orgelwerken des 19. und 20. Jahrhunderts, aber ebenso für die Interpretation des Orgelschaffens von Johann Sebastian Bach. Die Orgel, Opus 544 Wilhelm Sauers, besitzt insgesamt 61 Register, verteilt auf drei Manuale und Pedal (Hauptwerk 18, Mittelwerk 14, Fernwerk im Schwellkasten 12, Pedal 17) und war damit bei ihrer Fertigstellung die größte Orgel im Thüringer Raum. Eine Besonderheit war die Posaune 32 Fuß im Pedal, die der musikbegeisterte Mühlhäuser Unternehmer Wilhelm Weymar gestiftet hatte. Weymar hatte auch für die Orgelprüfung und ein erstes Konzert am 22. Mai 1891 Heinrich Reimann, den Organisten der Berliner Philharmonie und einen der führenden Konzertorganisten der Zeit, eingeladen.

Die eigentliche Einweihung der restaurierten Kirche und ihrer neuen Orgel fand dann am 24. Mai 1891 mit einem Festgottesdienst statt.
Die Orgel blieb bis 1975 weitgehend unverändert erhalten. Nach dem Übergang der Kirche an die Zentrale Gedenkstätte Deutscher Bauernkrieg versuchte man 1975/76, diese doch so großartige romantische Konzertorgel zu einer Konzertorgel entsprechend den Idealen der Orgelbewegung umzugestalten. Dies war mit einem beträchtlichen Substanzverlust verbunden – so wurde auch die 32-füßige Posaune ersatzlos entfernt.

Bereits damals standen diese Eingriffe in Widerspruch zu den Prinzipien der Denkmalpflege. An dieser Verstümmlung der Orgel änderten auch die Restaurierungsarbeiten von 1983 nichts. Seit Anfang der 1990er Jahre stand eine umfassende, denkmalgerechte Restaurierung der Orgel auf dem Programm. Als erster Schritt konnten 1994/95 durch die Firma Scheffler das Fernwerk (3. Manual) wieder originalgetreu rekonstruiert und das Hauptwerk (1. Manual) umfassend restauriert werden. 2021-2023 erfolgte schließlich durch den Alexander Schuke Orgelbau die denkmalgerechte Restaurierung und Rekonstruktion dieser bedeutenden Denkmalorgel.


Text: Peter Bühner, Mühlhausen 2023

Bild: Originalzeichnung von Wilhelm Sauer, Mühlhäuser Museen